01 Feb 2024

Out with the old, in with the new

Dieser Blogbeitrag beschreibt die Notwendigkeit einer radikalen Transformation der Kunststoffindustrie hin zu einer Kreislaufwirtschaft, um globale Klimaziele zu erreichen. Diese Transformation erfordert den Umbau linearer Produktionsanlagen, massive Investitionen in mechanisches Recycling und zirkuläres Produktdesign sowie eine umfassende Digitalisierung, inspiriert von den Pioniergeistern vergangener Industriegenerationen.

plastic waste with a white bottle, red plastic film and smaller products

Ich erinnere mich noch gut an die Eröffnung der K-Messe 2019 durch Markus Steilemann, den Covestro-CEO. Damals stand ich im Publikum als frisch gebackener Start-up-Unternehmer in der digitalen Kreislaufwirtschaft. „Digitalisierung auf der einen, Nachhaltigkeit auf der anderen Seite sind die entscheidenden Hebel für die Zukunft der Chemie- und Polymerindustrie und damit für die Zukunft der Mensch- heit insgesamt” waren damals seine Worte. Und ich dachte: wunderbar, zur richtigen Zeit am richtigen Ort.

Fünf Jahre sind seitdem vergangen. Von Corona über Ukrainekrieg, hohen Energiepreisen bis hin zu überbordender Bürokratie – es fällt leicht, externe Gründe dafür zu nennen, warum die Megatrends Digitalisierung und Nachhaltigkeit so unter die Räder gekommen sind. Doch das Selbstverständnis der Chemieindustrie als „Mutter aller Industrien” passt nicht zu diesem Schwarze-Peter-Spiel, ist man doch seit jeher gestaltender Innovations- und Wachstumsmotor des Kontinents. Daran gemessen sind die Ergebnisse ernüchternd, Deutschland stagniert auf unglaublich niedrigem Zirkularitäts- und Digitalisierungsniveau. Zu zaghaft einerseits, zu fokussiert auf chemisches Recycling andererseits, so lautet heute meine Conclusio.

Dabei steht außer Frage: Wir benötigen die Produkte, das Know-how und die finanzielle Schlagkraft der Kunststoffindustrie mehr denn je für das Erreichen der globalen Klimaziele. Allerdings mit gänzlich anderem Geschäftsmodell. Weg vom Großanlangenbetreiber in linearer Wirtschaft, hin zum Zirkularitätsdienstleister für Kohlenstoffe. Kernfunktion der Kunststoffindustrie muss es zukünftig sein, den aus nachwachsenden Rohstoffen erzeugten Kunststoff so hochwertig, umweltschonend und langfristig wie möglich im Kreis zu führen.

Circular-Plastics-as-a-Service – dieses neue Leitbild ist nichts weniger als die tiefgreifendste Veränderung der Kunststoffindustrie seit Beginn der industriellen Polymerproduktion. Konkret bedarf es hierzu der konsequenten Abschreibung und des Umbaus aller linearen Assets, massivem Invest in fortschrittliches mechanisches Recycling und zirkuläres Produktdesign über alle Industrien hinweg. Und einer damit verknüpften, umfassenden Digitalisierung aller Produktionsschritte; von den Möglichkeiten ganz zu schweigen, die der Anbruch des KI-Zeitalters auch für die Chemieindustrie eröffnen wird.

Wem dieses Leitbild zu sehr nach blühender Fantasie eines Jungunternehmers klingt, dem sei der Blick auf die deutsche Automobilindustrie empfohlen. Diese sieht sich heute als globaler Mobilitätsdienstleister. Das Beispiel dient aber gleichzeitig als Warnung: Die lange verzögerte, mitunter bitter bekämpfte Transformation hat uns als Autobauernation ins Hintertreffen geraten lassen. Das darf der chemischen Industrie nicht passieren. Dazu muss sie mutig vorangehen.

Erinnern wir uns an die industriellen Pioniere des 19. und 20. Jahrhunderts, auf deren Schultern ein Gutteil des Wohlstands unseres Kontinents gründet. Dieser Pioniergeist ohne Netz und doppelten Boden, aber mit langfristiger Orientierung: Das müssen wir als Branche wiederentdecken. Demgegenüber ist es einer so traditionsbewussten Industrie unwürdig, wenn man meint, man könne vor allem mit chemischem Recycling, Rechenspielertricks („Massenbilanzierung fuel exempt”) und grünem Marketing das rettende Ufer der nachhaltigen Kunststoffproduktion erreichen.

Dieser umfassende Wandel muss nicht nur in den Köpfen von Topmanagern stattfinden, sondern bei jedem einzelnen von uns. Mit der Allianz für Kreislaufwirtschaft haben wir anlässlich des Chemiegipfels dem Bundeskanzleramt 2023 konkrete erste Maßnahmen unterbreitet, wie Digitalisierung und Nachhaltigkeit die Zukunft der Chemie bestimmen können. Gelingt deren gemeinsame Umsetzung, dann werde ich zur K-Messe 2049 Markus Steilemann hoffentlich berichten können, dass das mit dem Retten der Menschheit geklappt hat. Packen wir es an.

Author: Christian Schiller, CEO Cirplus

Dieser Meinungsbeitrag wurde erstmals am 31.01.2024 in "Nachrichten aus der Chemie" veröffentlicht.