04 Sept 2024
Die Quoten kommen - Ein 7-Punkte-Plan für den Kunststoffverarbeiter der Zukunft
Stellen die vom EU-Parlament verabschiedeten Quoten in Sachen Kreislaufwirtschaft einen Durch- oder einen Dammbruch dar? Christian Schiller, Gründer und Geschäftsführer von Cirplus, ordnet in diesem Beitrag die Lage für die Kunststoffbranche ein.
Verpackungsverordnung, Altfahrzeugverordnung, Ökodesignrichtlinie, Verpackungsgesetz. Die Welle neuer Regeln, die auf die Kunststoffverarbeiter zurollt, scheint nicht enden zu wollen. Noch herrscht viel Unklarheit. Es sind dies die Vorboten eines umfassenden Transformationsprozesses der gesamten Kunststoffindustrie. Darum geht es aktuell heiß her in der Kunststoff- und Abfallwirtschaft. Bevor der Kunststoff ob der teilweise hitzig geführten Debatte über die richtige Zukunftsausrichtung zum Schmelzen gebracht wird, ein Versuch der Einordnung, was die derzeitige Lage für all jene Kunststoffverarbeiter bedeutet, die sich schon heute auf das Morgen vorbereiten wollen.
1. Don’t chill, act:
Die Versuchung liegt nahe, sich darauf zu verlassen, dass die Chemieindustrie mit ihren Verfahren zum chemischen Recycling die komplexen Materialströme in einer solchen Form aufbereiten kann, dass man als Verarbeiter nichts an den eigenen Prozessen ändern muss. Schließlich will das chemische Recy-cling künftig dem Markt massenbilanzierte, chemische Rezyklate in Neuwarequalität zur Verfügung stellen. In dem „chemischen Rezyklat“ muss aber kein Gramm tatsächlich recycelter Kohlenstoff enthalten sein. Aber: Weder sind die Verfahren zum chemischen Recycling skaliert verfügbar, noch ist bewiesen, dass sie tatsächlich mit komplexen, verschmutzten Stoffströmen umgehen können, geschweige denn, ob das vor dem Hintergrund der extrem hohen energetischen Anforderungen und potenziell toxischen Nebenprodukte und Sondermüll ökobilanziell noch irgendeinen Sinn ergibt.
2. Produktdesign:
Wo in der Vergangenheit Produkte auf die Nutzungsphase optimiert wurden, liegt es nun an Produktdesignern und Kunststoffingenieuren, ausnahmslos alle Produkte daraufhin zu optimieren, dass sie in fortschrittlichen mechanischen Recyclingverfahren nach der Nutzung recycelt werden können („recyclingfähig“) sowie selbst Rezyklate aufnehmen können („Rezyklateinsatz“). Dabei muss ein echtes Dilemma überwunden werden: Hauchdünnes Multilayer-Material mit sieben oder mehr verschiedenen Schichten und Eigenschaften sind wegen des geringeren Kunststoffverbrauchs einerseits ein Segen und meisterhafte Ingenieursleistung; andererseits aufgrund ihrer faktischen Recyclingunfähigkeit ein Fluch für den Planeten. Künftig muss die Formel gelten: lieber etwas mehr Materialeinsatz in der Nutzungsphase, dafür aber acht bis zehn Zyklen im Recycling für ausnahmslos alle Thermoplaste.
3. Anlagenpark überprüfen:
Es lohnt sich bereits jetzt, den eigenen Anlagenpark daraufhin zu überprüfen, ob er bereit ist für den Einsatz von Rezyklaten. Wo der wirtschaftliche Betrieb es zulässt, sollten erste Versuche zum Einsatz von PIR- und PCR-Material unternommen werden, beziehungsweise das Gespräch mit dem Anlagenhersteller frühzeitig gesucht werden. Hier ist noch viel Luft nach oben, und Maschinenbauer stehen in den Startlöchern, Rezyklatqualitäten in der Verarbeitung auf ungeahnte Höhen zu heben.
4. Exploration neuer Supply-Chains und Lieferanten:
Wer sich nicht vom Heilsversprechen des chemischen Recyclings abhängig machen will, Produktdesign ändert und dem Anlagenpark einer Überprüfung unterzieht, wird schließlich nicht umhinkommen, auch nach neuen Lieferanten Ausschau zu halten, um neue Lieferketten frühzeitig aufzubauen und abzusichern. Rezyklateinsatz ist heute noch ganz überwiegend ein Individualgeschäft und wird dies auch kurzfristig noch bleiben; das heißt im Umkehrschluss: Recycler und Compoun-deure werden sich auf die individuellen Anforderungen eines Kunststoffverarbeiters einstellen müssen, der quotengetrieben zum ersten Mal auf den Rezyklatmarkt drängen wird; man wird nicht einfach „von der Stange“ liefern können. Darum ist es so wichtig, dass sich Verarbeiter und Brands frühzeitig mit Lieferanten und Plattformen auseinandersetzen, die ihnen beim Übergang in die zirkuläre Zukunft behilflich sein können.
5. Biogener Kohlenstoff muss sukzessive die fossilen Polymere ersetzen:
Die Defossilisierung der Chemieindustrie ist eine zwingende Notwendigkeit, wenn die Pariser Klimaschutzziele eingehalten werden sollen. Wer diese Einsicht teilt, der muss überprüfen, ob beziehungsweise wie biogene Kohlenstoffe die fossilen im Betrieb ersetzen können. Denn: Auch in dem hier skizzierten Zukunftsszenario vom massiv skalierten, hochwertigen mechanischen Recycling im Jahr 2030 wird kein Weg an den Gesetzen der Thermodynamik vorbeiführen, sprich: Kohlenstoffketten können nicht auf ewig recycelt werden und müssen durch Neuware ersetzt oder ergänzt werden. Diese aber wird in Zukunft nicht mehr aus Erdöl stammen und entsprechend neue Anforderungen für Materialeinsatz und Lieferkettensicherheit formulieren.
6. Mitarbeiter Aus- und Weiterbildung:
Die Nationale Kreislaufwirtschaftsstrategie (NKWS) der Bundesregierung formuliert ein neues Leitbild für die Kunststoffindustrie. Sie solle sich künftig als „Zirkularitätsdienstleister von Kohlenstoffen“ verstehen – und nicht mehr als lineare Kette von der Herstellung über Verarbeitung, Nutzung bis hin zur Entsorgung. Wer damit im eigenen Betrieb ernst machen will, der muss seine Mitarbeiter entsprechend aus- und weiterbilden, denn: In der Vergangenheit hat die End-of-Life-Thematik kaum Interesse bei Teilnehmern der virginen Kette hervorgerufen, geschweige denn war es verpflichtender Teil der Ausbildung von Chemieingenieuren und Kunststofftechnikern. Das muss sich ändern, Bildungsmöglichkeiten stehen heute zunehmend zur Verfügung.
7. Digitalisierung zur Chefsache machen:
Die Komplexität des Aufbaus von Lieferketten aus recycelten Abfällen ist erheblich. Es mangelt heute bereits auf der Abfallebene an verlässlichen Daten über Zusammensetzung und Herkunft des Materials; um hieraus dem Markt Recompounds in verlässlicher Menge und Qualität zur Verfügung zu stellen, führt kein Weg daran vorbei, Stoffströme im Einkauf und Vertrieb zu digitalisieren und Betriebe über alle Wertschöpfungsstufen hinweg zu vernetzen. Eine solche Grundlagendigitalisierung der Kreislaufwirtschaft benötigt den Buy-in der Unternehmensleitung, denn sie stellt jeden Betrieb vor enorme personelle wie finanzielle Herausforderungen. Wer sich frühzeitig mit digitalen Technologien und Anbietern auf Prozess- und Hardwareebene auseinandersetzt, wird langfristig im Vorteil sein im gerade einsetzenden Zeitalter der künstlichen Intelligenz.
Der Umbau hin zu „Zirkularitätsdienstleistern von Kohlenstoffen“ verlangt allen in der Kunststoffindustrie ein massives Umdenken ab und bringt traditionelle Geschäftsmodelle ins Wanken. Dass hier große wirtschaftliche Partikularinteressen miteinander in ein heftiges Spannungsverhältnis zueinander treten, ist offensichtlich. Aber unumgänglich. Wer seinen Betrieb zukunftssicher machen will, der kann mit den hier genannten Handlungsempfehlungen wichtige Schritte auf diesem Weg gehen. Sicher: Das wird Anpassungsschmerzen und Kosten hervorrufen. Aber ebenso sicher ist, dass diese umso höher ausfallen werden, je länger man mit dem Handeln zuwartet. Das zu erkennen und danach zu handeln, braucht Mut und Beharrlichkeit. Ich habe keinen Zweifel daran, dass wir das schaffen können – wenn wir es denn ernsthaft und beharrlich angehen.
Autor: Christian Schiller, CEO Cirplus
Dieser Artikel wurde erstmals am 27.08.2024 in „PLASTVERARBEITER“ veröffentlicht.